YOU&ME.
Auf wundersame Weise verbindet ein Kunstwerk ein Du und ein Ich. Kunst ist ein Ruf an die Gemüter und Geister, eine Einladung, an einer vielstimmigen Konversation teilzuhaben. Vielleicht weist die anagrammatische Verwandtschaft von Imago und Amigo, von Bildwerk und Freund auf dieses Willkommen der Kunst. Ein Kunstwerk befindet sich nicht im Ich oder im Du – es ist zwischen Ich und Du. Und diese Zwischenräumlichkeit strukturiert als dritter Ort im Miteinander der Gegensätze jede Begegnung
.
You&Me. Anke Eilergerhard hat unter diesem Titel Arbeiten versammelt, die ganz selbstverständlich diesen Zwischenraum zwischen ich und Du, Betrachter und Werk, Skulptur und Raum, Denken und Anschauung zum Klingen und zum Schwingen bringen. Und in diesem changierenden Raum, in dem sich Freiräume des Sehens, des Imaginierens und Denkens eröffnen, begegnen sich auch YOU&ME, ein rot-schwarzes ikonisches Doppel, das als Relief zwischen Malerei und Skulptur vielfache Übergänge öffnet – und zugleich augenzwinkernd das rotierende Roulette assozieren lässt: Ein Entrée, das das Kreiseln, das glückliche Zufallen, das Einfallen von Bildideen und Bildformen anspielt.
Anke Eilergerhards Figuren und Objekte sind uns – wie auf einer Bühne – ein Gegenüber, nah und fern. Sehen wird zu einem freien Spiel zentrifugaler Kräfte, das Vexierung und den andauernden Aspektwechsel zugleich betreibt und reflektiert, das sich der Bezauberung öffnet, das altbekannte Dinge in luzider Transformation, in ungeahnter Konstellation neu auftreten lässt. Die Technik der Zuckerbäckerei wird Skulptur und Figur, wie auf einem Meisterstück der Patisserie türmen sich bei Anke Eilergerhards Objekten unzählige Sahnehäubchen zu einem tollkühnen, luxuriösen Ensemble, zu riskanten Balanceakten, die mitunter die Gesetze der Statik gänzlich auszuhebeln scheinen. Dabei ist es mehr als ein ironisches Aperçu, dass ihr Material, das Polyorganosiloxan (Silikon), in der plastischen Chirurgie wie auch in der Heimwerkerei eingesetzt wird, um Mängel zu kaschieren.
Form, Formation und Formativität entfalten und differenzieren sich solcherart in Anke Eilergerhards Werkgruppen, die „des eignen Bildens Kraft“1 in sichtbaren Formen sich manifestieren lassen. Der Raum wiederum, dem sich die Figuren dann einfügen, weist weder eine Eindeutigkeit noch eine rigide Stabilität auf, sondern erscheint als ein Ineinander von beweglichen Elementen2. Er wird beweglich und bewegend, von Bewegungen erfüllt, die durch ihn hindurch strömen. In ihrem ästhetischem Eigensinn, in ihrem exzentrischen Zusammenspiel der Dinge geben die Skulpturen der Ahnung eines lebensbejahenden Daseins Raum, das Ambivalenzen nicht leugnet, sondern erst erspielt und spielerisch und frei zur Anschauung und zum Austrag bringen kann.
High and Low, eins kommt zum andern – und nichts zur erpressten Versöhnung. Wie in einer Küche oder im Laboratorium der Alchemisten (worauf der Einsatz des Porzellans anspielt) haben wir es auch mit dem Arkanum der Zusammensetzung und dem leidenschaftlichen Verlangen, die ideale Rezeptur für Wohlgeschmack oder kostbare Schönheit zu entwickeln, zu tun. Bei den üppigen CROWNS kann man (auch) an den flapsigen Spruch von Hinfallen und Aufstehen denken – oder heutzutage natürlich auch an Corona. Die POLLEN lassen an Novalis‘ Blüthenstaub-Fragmente denken, die er als literarische Sämereien ausgestreut hat, um ein freies poetisches Spiel in Gang zu setzen, das die Veränderlichkeit, den Zufall, den Einfall als Ingredienz der Schöpfung einbezieht: „Alle Zufälle unseres
Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen. Jeder Vorfall erstes Glied einer unendlichen Reihe.“3
Anke Eilergerhards Pollenarchiv, das wie durch ein Mikroskop vergrößerte Pollen-Objekte (die in ihrer lateinischen Ursprungsbedeutung feines Mehl wieder auf die Torte zurückweist) ausstellt, gibt in serieller, gleichsam wissenschaftlicher Anordnung, eine Morphologie der Pollen. Und zugleich verbinden sich hier, wie im Wort Morphologie (von altgriechisch morphé „Gestalt, Form“, und lógos „Wort, Lehre, Vernunft, Sinn“) Sinn und Sinnlichkeit selbst.
In seiner Morphologie verstand Goethe Form, Gestalt, Verwandlung als organisch-ästhetisches Phänomen, als Gegenstand von Erkenntnis und Sinn von Kunst, sowie als Substanzen, die dem Geistigen abgewonnen und ins Sichtbare überführt worden waren. „Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke.“4 Es sind diese Beweglichkeit, diese unendlichen Verwandlungspotentiale, die Anke Eilergerhard eigenwillig aufgreift, und was so entsteht, erscheint, aller Perfektion zum Trotz, als Etwas, das die starre Vollendung souverän negiert. Die hier umspielte Idee der Metamorphose ist dynamisch, sie verschmilzt die Beobachtung zur Erfahrung aus vielfältigen Ansichten, die die Pendelbewegungen von Trennung und Verbindung, von Polarität und Steigerung zu unerwarteter Harmonie ausbalanciert: Gesetz und Erscheinung, Einfachheit und Mannigfaltigkeit verblüffen durch immer neue Einheit.
Auch DIE EINHUNDERTUNDSIEBENUNDDREISSIG SCHWARZEN TORTEN, die die normalerweise vielfarbigen Erzeugnisse der Patisserie im Schwarz-Weiß des Schattenrisses abbilden, blättern einen morphologischen Bilderbogen von Torten-Strukturen auf. In ironischer/subversiver Monumentalität wird dem so vergänglichen, verderblichen Produkt ein Denkmal gesetzt – vergangene Genüsse, der nicht konservierbare Geschmack von Schwarzwälderkirsch und anderen Kunststückchen der Konditorei ist plötzlich da und doch so fern, verfremdet, in befremdlicher Strenge. Und wieder stehen Medium und Bildwerdung in engster Korrespondenz, ist doch jedes Foto Spur einer Abwesenheit, zugleich aber gibt es Präsenz, beglaubigt Existenz: Das ist gewesen – das ist für mich, jetzt. Bruch und Kontinuität sind in komplexer Weise miteinander verwoben. In der Betrachtung von Fotografien sehen wir uns einem Verschwundenen gegenüber, aber indem wir es sehen, dringt das Verschwundene immer wieder in unsere Gegenwart ein. Fotografie macht die Vergangenheit zu einem imaginären Besitz. Fotografieren heißt aber auch, teilzunehmen an der Verletzlichkeit, Wandelbarkeit, Flüchtigkeit der Dinge und Erscheinungen.
Und wie immer können sich in Anke Eilergerhards Rauminszenierungen, in ihren Choreographien, die Bild-Objekte in heiterer Parallelität zusammenstellen, die das Gegensätzliche doch zusammenklingen lassen. Und so stehen das Himmlische und das Irdene nebeneinander, unterminieren die simple Alternative des Entweder – Oder und öffnen einen Spielraum, der zugleich auf das Prinzip der Kreativität deutet, auf die Imagination, die nicht kategorial Zusammengehörendes in Beziehung setzt, die mit logischen Schlüssen jongliert.
Mit einem Grenzen ignorierenden Enthusiasmus, mit Ingenium, Witz und Konzeptualismus erkunden Anke Eilergerhards Figuren und Objekte Fläche und Raum, Regel und Zufall – und das Widerspiel von Opulenz und Strenge. In ihrem plastischem Werk gibt es immer Momente des Absurden, Begegnungen des Unerwarteten, des Trivialen mit dem Kostbaren. Und immer entstehen Widersinnigkeiten aus den Verrückungen, den Transplantationen der Materialien und Motiven. Listig und subversiv siedeln die Dinge zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Geometrie und Organischem, zwischen schillerndem Glanz, farbigem Muster oder opaker Monochromie. Zugleich erspielen die Skulpturen in ihrer Serialität, im repetitiven Verfahren der aneinander und übereinander gesetzten Silikon-Häubchen und/oder dem Einsatz des Porzellans die Frage nach Differenz und Wiederholung, nach Verschiebung, und Verkleidung, die schlicht die Ordnung der Repräsentation und des gesunden Menschenverstands unterlaufen.
In MAYDAY stehen sich zwei auf den ersten Blick streng konstruktivistische Elemente gegenüber, wobei diese Doppel-Skulptur zugleich die Struktur des Rasters aufnimmt, eine der stärksten Ausdrucksformen der Moderne. Raster sind Ordnungsstrukturen, die die kapriziösen Wucherungen der Natur bändigen sollen. Raster bilden Systeme und folgen regelhaften Gesetzmäßigkeiten. Raster konstituieren Gesetz und Erscheinung, Objekt und Konzept. Das Raster als Bildthema wurde interpretiert als Modell des selbstreferenziellen, auf nichts außerhalb seiner selbst verweisenden modernen Kunstwerks, als Ort des Schweigens.5 Das Reale, das Gegenständliche, die Narration soll in diesem autonomen Raum, der sich selbst zum Zweck hat, keine Rolle mehr spielen. Der Einsatz, die Verselbständigung des Rasters in der Kunst kündet von ihrer zeitlichen und räumlichen Autonomie: „Flach, geometrisch, geordnet, ist es anti-natürlich, anti-mimetisch, anti-real. So sieht Kunst aus, wenn sie der Natur den Rücken kehrt“.6
In einer wagemutigen Volte werden bei Anke Eilergerhard die gerasterten Quader, auch in ihrer eleganten, sanitären Farbigkeit, zu einem Motiv der Entriegelung und Entgrenzung. Sie symbolisieren nicht den Gestus der Abschirmung, sondern öffnen sich den von Krauss inkriminierten „äußeren Eindringlingen“ – und dies ganz wörtlich, wenn im Näherkommen Hundegebell ertönt. Wie im Hilferuf Mayday selbst, der sich einer phonetischen Verschiebung von m‘aidez (Helft mir) zu Mayday (Maifeiertag) verdankt , geht es um eigensinniges Andersverstehen, um produktive Messaliancen. Eine Mischehe gehen im DENKMAL die unterschiedlichen Kulturen Ost und West im Porzellan aus ost- und westdeutschen Manufakturen: Ihr großmütiges Zusammenspiel überlistet das einsinnige Entweder – Oder in neuer fragil balancierter Einheit, die doch die Gegensätze nicht leugnet. Auch hier wird gleichsam mit leichter Hand ein anderer Blick auf starre Differenzen ermöglicht, ein Blick, der dem Nebeneinander, dem Zugleich, der Simultaneität unterschiedlicher Perspektiven auf die Welt Raum gibt.
Dabei gehen die Skulpturen ironisch und makkaronisch mit der Tradition – und damit mit Zeit und Ewigkeit – um: Die verschwenderische Fülle des Barock, seine ekstatischen Inszenierungen liieren sich in den Porträts von LETIZIA und CARLOS mit der Popart (die auch im Prinzip der Serialität in Anke Eilergerhards Werk mitspielt) und ihrer Ikonisierung von Berühmtheiten, wie sie uns in den Massenmedien begegnen. Und wie Warhols Starporträts geht es bei diesen beiden Mitgliedern des spanischen Königshauses, von deren Affären, Skandalen, selbst von ihren Dessous wir allerhand aus der Regenbogenpresse wissen, um die eigentümliche Bildrealität solcher Berühmtheiten, um das Spiel von Oberfläche und Tiefe von fotografischem Bild und kalkuliertem Persönlichkeitsbild, in dem der Star eine undurchdringliche Erscheinung, geheimnisvoll und auratisch wie sein klingender Name, bleibt: Diese profanen Ikonen sind und produzieren ein geschmeidiges Gewebe der Images, das sich nicht auflösen, auf eine Wirklichkeit zurückführen lässt.7 Die konzeptuelle Reflektion von Medialität, des Bilder-Loops geht in eins mit Sinnlichkeit, Üppigkeit und Augenlust und auch die herkömmlichen Gegensätze von Skulptur und Farbe bilden in Anke Eilergerhards Arbeiten vitale Metamorphosen von einem zum andern, fusionieren zu dynamischen Farbwolken, die wie im Paradox Flüchtigkeit, Entstehung und Auflösung in Szene setzen.
Immer tritt man ein in ein bewegtes und bewegliches Ereignis, das wie selbstverständlich diesseits und jenseits der Grenze des Bezeichnens tanzt, so wie die QUELLNYMPHE ihren Raum zum Tanzen bringt. Und dazu passt, dass der Kulturwissenschaftler Aby Warburg, der sich in seinen Forschungen nie vom Grenzwächtertum der Disziplinen schrecken ließ, einen „Verein gegen das Odern“ gründen wollte, gerade die Nymphe als die symbolhafte Verkörperung des Wandels und der Bewegung ansah: als Pathosformel und Dynamogram. Das Kunstwerk wird bei Aby Warburg als Energiefeld begriffen, als ein virtuell bewegtes Wesen, das Strahlen oder Pfeile aussendet und somit Künstler wie Betrachter affizieren kann.8 In diesem Sinne ist auch die blaue, gleichsam fluide QUELLNYMPHE Energiequelle, eine Form des Dynamischen und eine Konfiguration unterschiedlicher Kräfte. Anke Eilergerhards Personnage verströmt ein Fluidum, das sich in Übertragungs- und Verwandlungsprozessen zeigt, eine performative Quelle der Welterzeugung: Manifestationen von Energie, ihren Schwingungen, Vibrationen und Wellen. Sie gestalten gleichsam ein zirkulierendes Dazwischen, einen medialen und transgressiven Prozess, der Verbindungen stiftet zwischen Körpern, Objekten, Kulturen in einem von Strömen und Strahlen durchwirkten Raum. Aus flüchtigen Erfahrungen wird Form und der Ort wird zur Bühne, in dem sich die Wirkkräfte, die Bilder in ihrem Fluss entfalten.
Im Zusammenfall von Evidenz und Energie entfalten Anke Eilergerhards wundersame Gestalten ein Inventar der bildnerischen Möglichkeiten, das nicht auf verordnete Ordnungen hereinfällt, sondern überraschende, flexible wandelbare Vorschläge des Zu-Sehen-Gebens bereithält. „Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variablen zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann. Den inneren Menschen erfinden.“9
Dr. Dorothée Bauerle-Willert, Berlin 2020
1Johann Wolfgang von Goethe; Howards Ehrengedächtnis, In: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, München 1982, S. 350
2Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218
3Novalis, Blüthenstaub, In: Novalis Blüthenstaub/Glauben und Liebe, Die Christenheit oder Europa, Berlin 2016, S. 16 (Fragment Nr. 66)
4Johann Wolfgang von Goethe, Morphologie, In: Werke, Bd. 13, Naturwissenschaftliche Schriiften I, München 1982, S. 55
5Vgl. dazu Rosalind Krauss, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam und Dresden 2000, S. 51
6Ebenda
7Vgl. dazu: Michael Lüthy, Andy Warhol. Thirty Are Better Than One, Frankfurt/M. 1995, S. 45f
8Siehe Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt 1981, S. 108
9Robert Musil, Skizze der Erkenntnis des Dichters, In: Gesammelte Werke, hrsg. von Adolf Frisé , Bd. 8, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1029
YOU&ME.
Katalogbeitrag:
Dr. Dorothée Bauerle-Willert über die Einzelausstellung
EILERGERHARD. YOU&ME.
Kunstsammlung
Neubrandenburg, 2020
YOU&ME.
Auf wundersame Weise verbindet ein Kunstwerk ein Du und ein Ich. Kunst ist ein Ruf an die Gemüter und Geister, eine Einladung, an einer vielstimmigen Konversation teilzuhaben. Vielleicht weist die anagrammatische Verwandtschaft von Imago und Amigo, von Bildwerk und Freund auf dieses Willkommen der Kunst. Ein Kunstwerk befindet sich nicht im Ich oder im Du – es ist zwischen Ich und Du. Und diese Zwischenräumlichkeit strukturiert als dritter Ort im Miteinander der Gegensätze jede Begegnung
.
You&Me. Anke Eilergerhard hat unter diesem Titel Arbeiten versammelt, die ganz selbstverständlich diesen Zwischenraum zwischen ich und Du, Betrachter und Werk, Skulptur und Raum, Denken und Anschauung zum Klingen und zum Schwingen bringen. Und in diesem changierenden Raum, in dem sich Freiräume des Sehens, des Imaginierens und Denkens eröffnen, begegnen sich auch YOU&ME, ein rot-schwarzes ikonisches Doppel, das als Relief zwischen Malerei und Skulptur vielfache Übergänge öffnet – und zugleich augenzwinkernd das rotierende Roulette assozieren lässt: Ein Entrée, das das Kreiseln, das glückliche Zufallen, das Einfallen von Bildideen und Bildformen anspielt.
Anke Eilergerhards Figuren und Objekte sind uns – wie auf einer Bühne – ein Gegenüber, nah und fern. Sehen wird zu einem freien Spiel zentrifugaler Kräfte, das Vexierung und den andauernden Aspektwechsel zugleich betreibt und reflektiert, das sich der Bezauberung öffnet, das altbekannte Dinge in luzider Transformation, in ungeahnter Konstellation neu auftreten lässt. Die Technik der Zuckerbäckerei wird Skulptur und Figur, wie auf einem Meisterstück der Patisserie türmen sich bei Anke Eilergerhards Objekten unzählige Sahnehäubchen zu einem tollkühnen, luxuriösen Ensemble, zu riskanten Balanceakten, die mitunter die Gesetze der Statik gänzlich auszuhebeln scheinen. Dabei ist es mehr als ein ironisches Aperçu, dass ihr Material, das Polyorganosiloxan (Silikon), in der plastischen Chirurgie wie auch in der Heimwerkerei eingesetzt wird, um Mängel zu kaschieren.
Form, Formation und Formativität entfalten und differenzieren sich solcherart in Anke Eilergerhards Werkgruppen, die „des eignen Bildens Kraft“1 in sichtbaren Formen sich manifestieren lassen. Der Raum wiederum, dem sich die Figuren dann einfügen, weist weder eine Eindeutigkeit noch eine rigide Stabilität auf, sondern erscheint als ein Ineinander von beweglichen Elementen2. Er wird beweglich und bewegend, von Bewegungen erfüllt, die durch ihn hindurch strömen. In ihrem ästhetischem Eigensinn, in ihrem exzentrischen Zusammenspiel der Dinge geben die Skulpturen der Ahnung eines lebensbejahenden Daseins Raum, das Ambivalenzen nicht leugnet, sondern erst erspielt und spielerisch und frei zur Anschauung und zum Austrag bringen kann.
High and Low, eins kommt zum andern – und nichts zur erpressten Versöhnung. Wie in einer Küche oder im Laboratorium der Alchemisten (worauf der Einsatz des Porzellans anspielt) haben wir es auch mit dem Arkanum der Zusammensetzung und dem leidenschaftlichen Verlangen, die ideale Rezeptur für Wohlgeschmack oder kostbare Schönheit zu entwickeln, zu tun. Bei den üppigen CROWNS kann man (auch) an den flapsigen Spruch von Hinfallen und Aufstehen denken – oder heutzutage natürlich auch an Corona. Die POLLEN lassen an Novalis‘ Blüthenstaub-Fragmente denken, die er als literarische Sämereien ausgestreut hat, um ein freies poetisches Spiel in Gang zu setzen, das die Veränderlichkeit, den Zufall, den Einfall als Ingredienz der Schöpfung einbezieht: „Alle Zufälle unseres
Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen. Jeder Vorfall erstes Glied einer unendlichen Reihe.“3
Anke Eilergerhards Pollenarchiv, das wie durch ein Mikroskop vergrößerte Pollen-Objekte (die in ihrer lateinischen Ursprungsbedeutung feines Mehl wieder auf die Torte zurückweist) ausstellt, gibt in serieller, gleichsam wissenschaftlicher Anordnung, eine Morphologie der Pollen. Und zugleich verbinden sich hier, wie im Wort Morphologie (von altgriechisch morphé „Gestalt, Form“, und lógos „Wort, Lehre, Vernunft, Sinn“) Sinn und Sinnlichkeit selbst.
In seiner Morphologie verstand Goethe Form, Gestalt, Verwandlung als organisch-ästhetisches Phänomen, als Gegenstand von Erkenntnis und Sinn von Kunst, sowie als Substanzen, die dem Geistigen abgewonnen und ins Sichtbare überführt worden waren. „Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke.“4 Es sind diese Beweglichkeit, diese unendlichen Verwandlungspotentiale, die Anke Eilergerhard eigenwillig aufgreift, und was so entsteht, erscheint, aller Perfektion zum Trotz, als Etwas, das die starre Vollendung souverän negiert. Die hier umspielte Idee der Metamorphose ist dynamisch, sie verschmilzt die Beobachtung zur Erfahrung aus vielfältigen Ansichten, die die Pendelbewegungen von Trennung und Verbindung, von Polarität und Steigerung zu unerwarteter Harmonie ausbalanciert: Gesetz und Erscheinung, Einfachheit und Mannigfaltigkeit verblüffen durch immer neue Einheit.
Auch DIE EINHUNDERTUNDSIEBENUNDDREISSIG SCHWARZEN TORTEN, die die normalerweise vielfarbigen Erzeugnisse der Patisserie im Schwarz-Weiß des Schattenrisses abbilden, blättern einen morphologischen Bilderbogen von Torten-Strukturen auf. In ironischer/subversiver Monumentalität wird dem so vergänglichen, verderblichen Produkt ein Denkmal gesetzt – vergangene Genüsse, der nicht konservierbare Geschmack von Schwarzwälderkirsch und anderen Kunststückchen der Konditorei ist plötzlich da und doch so fern, verfremdet, in befremdlicher Strenge. Und wieder stehen Medium und Bildwerdung in engster Korrespondenz, ist doch jedes Foto Spur einer Abwesenheit, zugleich aber gibt es Präsenz, beglaubigt Existenz: Das ist gewesen – das ist für mich, jetzt. Bruch und Kontinuität sind in komplexer Weise miteinander verwoben. In der Betrachtung von Fotografien sehen wir uns einem Verschwundenen gegenüber, aber indem wir es sehen, dringt das Verschwundene immer wieder in unsere Gegenwart ein. Fotografie macht die Vergangenheit zu einem imaginären Besitz. Fotografieren heißt aber auch, teilzunehmen an der Verletzlichkeit, Wandelbarkeit, Flüchtigkeit der Dinge und Erscheinungen.
Und wie immer können sich in Anke Eilergerhards Rauminszenierungen, in ihren Choreographien, die Bild-Objekte in heiterer Parallelität zusammenstellen, die das Gegensätzliche doch zusammenklingen lassen. Und so stehen das Himmlische und das Irdene nebeneinander, unterminieren die simple Alternative des Entweder – Oder und öffnen einen Spielraum, der zugleich auf das Prinzip der Kreativität deutet, auf die Imagination, die nicht kategorial Zusammengehörendes in Beziehung setzt, die mit logischen Schlüssen jongliert.
Mit einem Grenzen ignorierenden Enthusiasmus, mit Ingenium, Witz und Konzeptualismus erkunden Anke Eilergerhards Figuren und Objekte Fläche und Raum, Regel und Zufall – und das Widerspiel von Opulenz und Strenge. In ihrem plastischem Werk gibt es immer Momente des Absurden, Begegnungen des Unerwarteten, des Trivialen mit dem Kostbaren. Und immer entstehen Widersinnigkeiten aus den Verrückungen, den Transplantationen der Materialien und Motiven. Listig und subversiv siedeln die Dinge zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Geometrie und Organischem, zwischen schillerndem Glanz, farbigem Muster oder opaker Monochromie. Zugleich erspielen die Skulpturen in ihrer Serialität, im repetitiven Verfahren der aneinander und übereinander gesetzten Silikon-Häubchen und/oder dem Einsatz des Porzellans die Frage nach Differenz und Wiederholung, nach Verschiebung, und Verkleidung, die schlicht die Ordnung der Repräsentation und des gesunden Menschenverstands unterlaufen.
In MAYDAY stehen sich zwei auf den ersten Blick streng konstruktivistische Elemente gegenüber, wobei diese Doppel-Skulptur zugleich die Struktur des Rasters aufnimmt, eine der stärksten Ausdrucksformen der Moderne. Raster sind Ordnungsstrukturen, die die kapriziösen Wucherungen der Natur bändigen sollen. Raster bilden Systeme und folgen regelhaften Gesetzmäßigkeiten. Raster konstituieren Gesetz und Erscheinung, Objekt und Konzept. Das Raster als Bildthema wurde interpretiert als Modell des selbstreferenziellen, auf nichts außerhalb seiner selbst verweisenden modernen Kunstwerks, als Ort des Schweigens.5 Das Reale, das Gegenständliche, die Narration soll in diesem autonomen Raum, der sich selbst zum Zweck hat, keine Rolle mehr spielen. Der Einsatz, die Verselbständigung des Rasters in der Kunst kündet von ihrer zeitlichen und räumlichen Autonomie: „Flach, geometrisch, geordnet, ist es anti-natürlich, anti-mimetisch, anti-real. So sieht Kunst aus, wenn sie der Natur den Rücken kehrt“.6
In einer wagemutigen Volte werden bei Anke Eilergerhard die gerasterten Quader, auch in ihrer eleganten, sanitären Farbigkeit, zu einem Motiv der Entriegelung und Entgrenzung. Sie symbolisieren nicht den Gestus der Abschirmung, sondern öffnen sich den von Krauss inkriminierten „äußeren Eindringlingen“ – und dies ganz wörtlich, wenn im Näherkommen Hundegebell ertönt. Wie im Hilferuf Mayday selbst, der sich einer phonetischen Verschiebung von m‘aidez (Helft mir) zu Mayday (Maifeiertag) verdankt , geht es um eigensinniges Andersverstehen, um produktive Messaliancen. Eine Mischehe gehen im DENKMAL die unterschiedlichen Kulturen Ost und West im Porzellan aus ost- und westdeutschen Manufakturen: Ihr großmütiges Zusammenspiel überlistet das einsinnige Entweder – Oder in neuer fragil balancierter Einheit, die doch die Gegensätze nicht leugnet. Auch hier wird gleichsam mit leichter Hand ein anderer Blick auf starre Differenzen ermöglicht, ein Blick, der dem Nebeneinander, dem Zugleich, der Simultaneität unterschiedlicher Perspektiven auf die Welt Raum gibt.
Dabei gehen die Skulpturen ironisch und makkaronisch mit der Tradition – und damit mit Zeit und Ewigkeit – um: Die verschwenderische Fülle des Barock, seine ekstatischen Inszenierungen liieren sich in den Porträts von LETIZIA und CARLOS mit der Popart (die auch im Prinzip der Serialität in Anke Eilergerhards Werk mitspielt) und ihrer Ikonisierung von Berühmtheiten, wie sie uns in den Massenmedien begegnen. Und wie Warhols Starporträts geht es bei diesen beiden Mitgliedern des spanischen Königshauses, von deren Affären, Skandalen, selbst von ihren Dessous wir allerhand aus der Regenbogenpresse wissen, um die eigentümliche Bildrealität solcher Berühmtheiten, um das Spiel von Oberfläche und Tiefe von fotografischem Bild und kalkuliertem Persönlichkeitsbild, in dem der Star eine undurchdringliche Erscheinung, geheimnisvoll und auratisch wie sein klingender Name, bleibt: Diese profanen Ikonen sind und produzieren ein geschmeidiges Gewebe der Images, das sich nicht auflösen, auf eine Wirklichkeit zurückführen lässt.7 Die konzeptuelle Reflektion von Medialität, des Bilder-Loops geht in eins mit Sinnlichkeit, Üppigkeit und Augenlust und auch die herkömmlichen Gegensätze von Skulptur und Farbe bilden in Anke Eilergerhards Arbeiten vitale Metamorphosen von einem zum andern, fusionieren zu dynamischen Farbwolken, die wie im Paradox Flüchtigkeit, Entstehung und Auflösung in Szene setzen.
Immer tritt man ein in ein bewegtes und bewegliches Ereignis, das wie selbstverständlich diesseits und jenseits der Grenze des Bezeichnens tanzt, so wie die QUELLNYMPHE ihren Raum zum Tanzen bringt. Und dazu passt, dass der Kulturwissenschaftler Aby Warburg, der sich in seinen Forschungen nie vom Grenzwächtertum der Disziplinen schrecken ließ, einen „Verein gegen das Odern“ gründen wollte, gerade die Nymphe als die symbolhafte Verkörperung des Wandels und der Bewegung ansah: als Pathosformel und Dynamogram. Das Kunstwerk wird bei Aby Warburg als Energiefeld begriffen, als ein virtuell bewegtes Wesen, das Strahlen oder Pfeile aussendet und somit Künstler wie Betrachter affizieren kann.8 In diesem Sinne ist auch die blaue, gleichsam fluide QUELLNYMPHE Energiequelle, eine Form des Dynamischen und eine Konfiguration unterschiedlicher Kräfte. Anke Eilergerhards Personnage verströmt ein Fluidum, das sich in Übertragungs- und Verwandlungsprozessen zeigt, eine performative Quelle der Welterzeugung: Manifestationen von Energie, ihren Schwingungen, Vibrationen und Wellen. Sie gestalten gleichsam ein zirkulierendes Dazwischen, einen medialen und transgressiven Prozess, der Verbindungen stiftet zwischen Körpern, Objekten, Kulturen in einem von Strömen und Strahlen durchwirkten Raum. Aus flüchtigen Erfahrungen wird Form und der Ort wird zur Bühne, in dem sich die Wirkkräfte, die Bilder in ihrem Fluss entfalten.
Im Zusammenfall von Evidenz und Energie entfalten Anke Eilergerhards wundersame Gestalten ein Inventar der bildnerischen Möglichkeiten, das nicht auf verordnete Ordnungen hereinfällt, sondern überraschende, flexible wandelbare Vorschläge des Zu-Sehen-Gebens bereithält. „Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variablen zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann. Den inneren Menschen erfinden.“9
Dr. Dorothée Bauerle-Willert, Berlin 2020
1Johann Wolfgang von Goethe; Howards Ehrengedächtnis, In: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, München 1982, S. 350
2Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218
3Novalis, Blüthenstaub, In: Novalis Blüthenstaub/Glauben und Liebe, Die Christenheit oder Europa, Berlin 2016, S. 16 (Fragment Nr. 66)
4Johann Wolfgang von Goethe, Morphologie, In: Werke, Bd. 13, Naturwissenschaftliche Schriiften I, München 1982, S. 55
5Vgl. dazu Rosalind Krauss, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam und Dresden 2000, S. 51
6Ebenda
7Vgl. dazu: Michael Lüthy, Andy Warhol. Thirty Are Better Than One, Frankfurt/M. 1995, S. 45f
8Siehe Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt 1981, S. 108
9Robert Musil, Skizze der Erkenntnis des Dichters, In: Gesammelte Werke, hrsg. von Adolf Frisé , Bd. 8, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1029
YOU&ME.
Katalogbeitrag:
Dr. Dorothée Bauerle-Willert über die Einzelausstellung
EILERGERHARD. YOU&ME.
Kunstsammlung
Neubrandenburg, 2020